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Dunkle Gedanken, strahlendes Licht

Carolin Widmann
© Helmut Wachter / ECM Records
23.09.2009
Feiern ist die eine Seite. Während das Label ECM und dessen Tochter ECM New Series in diesem Herbst mit verschiedenen, großen Konzerten und Aktionen das 40jährige Bestehen des Haupthauses und das 25jährige der Dependance begehen, setzt sich die Firmensaga mit neuen Produktionen fort. Zwei aktuelle Beispiele: Mit „Phantasy of Spring“ loten die Geigerin Carolin Widmann und der Pianist Simon Lepper in vielschichtiger Weise die Beziehung ihrer Instrumente in der Musikgeschichte des 20.Jahrhunderts aus. Und der Bariton Christian Gerhaher widmet sich gemeinsam mit dem Rosamunde Quartett der famosen Lenau-Vertonung „Notturno“ des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck.

Es ist auch eine Frage der Konkurrenz. Kaum zwei andere Instrumente stehen sich Anfang des 20.Jahrhunderts im Kern so widerstrebend gegenüber wie die Geige und das Klavier. Das eine komplett frei in seinem Gestaltungshorizont, das anderen an die temperierte Stimmung gebunden, dafür in den orchestralen Möglichkeiten unerreicht, hatten sie sich während der vorangegangenen Jahrhunderte zu den Flaggschiffen des Konzertwesens entwickelt, beide auf ihre Weise von genialen Künstler- und Komponistenpersönlichkeiten geprägt. Nun also, angesichts grundlegender inhaltlicher Umdeutungen seit der Jahrhundertwende, haderten die Kreativen mit der Kombination Geige und Klavier, die noch Beethoven und Brahms zu Meisterwerken inspirierte.

Arnold Schönberg etwa verstand seine „Phantasy for Violin“ 1949 ganz klar als Geigenstück „with piano accompaniment“, den Klang der frei zu gestaltenden Seite im Vordergrund. Sein junger Kollege Bernd Alois Zimmermann hingegen exerzierte in seiner „Sonate für Violine und Klavier“, die als Vorstufe für sein Violinkonzert gilt, bereits 1950 die Möglichkeiten der dialogischen Begegnung der Instrumente ausführlich durch. Morton Feldman bot wieder eine andere Möglichkeit, indem er beide Instrumente in „Spring of Chosroes“ (1978) quasi musikalisch hierarchiefrei nebeneinander stellt und Fragen der Dominanz gar nicht erst aufkommen lässt. Iannis Xenakis schließlich war bestrebt, mit „Dikhthas“ (1979) die Kontraste aufeinander prallen zu lassen und die einzelnen Facetten des Gleichgewichts und Auseinanderdriftens exemplarisch durchzuspielen. Wenn die spätestens seit ihrem ECM-Debüt (mit den Schumann Violinsonaten 1–3) international hochgeschätzte Geigerin Carolin Widmann und ihr Klavier-Partner Simon Lepper sich nun diese vier Stücke ausgesucht haben, um die Möglichkeiten des musikalischen Zusammenwirkens auszuloten, dann entsteht eine ungewöhnlich spannungs- und zugleich aufschlussreiche künstlerische Stellungnahme über die Grenzen instrumentaler Harmonie, deren Virtuosität weit über das normale spieltechnische Können hinausreicht.

Weitaus versöhnlicher arbeitete Othmar Schoeck mit dem Erbe der Romantik. Der Schweizer Komponist, Schüler von Max Reger und langjähriger Leiter der Sinfoniekonzerte in St. Gallen, sah sich selbst in der Tradition etwa eines Hugo Wolf und wurde vor allem durch seine rund 400 Liedkompositionen bekannt, mit denen er, mal mit Orchester, mal mit Klavier oder Klammerensemble, Gedichte von Goethe bis Hermann Hesse musikalisch umsetzte. „Notturno – Fünf Sätze für Streichquartett und eine Singstimme“ entstanden in den Jahren 1931–33, basierend auf Texten von Nikolaus Lenau und einem Fragment von Gottfried Keller, die Schoeck mit dramatischer Emphase zu vertonen verstand. Für die dunklen, traurigen Texte des Dichters fand der Komponist klingende Bilder, die sich weit von dem entfernten, was lange Zeit als klassisch-folkloristisches Idiom Schweizer Musik galt und näherte sich Kollegen wie Alban Berg, im Fernen auch Béla Bartók, ohne aber deren Vorstellungswelten zu adaptieren.

„Notturno“ wurde Othmar Schoecks bekanntestes und meistgespieltes Werk, obwohl es alles andere als leicht zu interpretieren ist. Das lag zum einen an der hohen Wertschätzung des Stücks durch Dietrich Fischer-Dieskau, der es über ein Jahrzehnt hinweg regelmäßig aufführte und für Schoecks Vokalschaffen die Lanze brach. Es gründete aber auch in der Besonderheit des Stückes an sich, das nicht nur aufgrund der unüblichen Instrumentierung, sondern vor allem durch die symbiotische Umsetzung der poetisch verschlungenen Verse eine enorme Kraft entfaltet. Davon wird auch die Neueinspielung von „Notturno“ durch den Bariton Christian Gerhaher und das Rosamunde Quartett bestimmt. Hier wird mit Stimmungsnuancen, mit großem Nachdruck und subtiler Relativierung gearbeitet, sorgsam bedacht auf das Ineinanderwirken von Stimme, Text und Musik, so dass deutlich wird, warum Othmar Schoeck längst zu den Klassikern der europäischen Moderne gezählt werden muss.

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