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Radikaler Bruch mit der musikalischen Tradition

KlassikAkzente sagt Danke
© Holger Matthies
31.08.2023
Als die Deutsche Grammophon vor 55 Jahren ihre Avantgarde-Reihe startete, beschritt sie editorisches Neuland. Die vier 6-LP-Boxsets enthielten Musik, die seinerzeit noch als “gewagt” und “ungewöhnlich” beargwöhnt wurde.
Komponisten wie John Cage, Luciano Berio, Mauricio Kagel, Luigi Nono, Karl-Heinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann, Leo Küpper oder Dieter Schnebel rissen Schranken nieder, die den nach ihrer Überzeugung längst überfälligen Fortschritt in der Musik hemmten. Jetzt hat Deutsche Grammophon diese spektakuläre Sammlung als Edition veröffentlicht. Auffallend an dieser 21 CDs umfassenden Box ist das Bestreben, den Zirkel der Modernen Musik jener Jahre weit zu schlagen und dabei die enorme Bandbreite an Komponisten, die oft auch gleichzeitig die Interpreten ihrer Werke waren, darzustellen.  Viele von ihnen gelten bis heute als herausragende Vertreter der Avantgarde und ihre Werke als beispielgebend für die Suche nach neuen Klangstrukturen und nach der Erweiterung musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.

Initialzündung einer neuen Musik

György Ligeti etwa – er beschrieb sein berühmtes 16-stimmiges mikropolyphonisches Chorwerk “Lux aeterna” aus dem Jahre 1966 selbst als ein Experiment mit harmonischer Klangfarbenmusik, bei dem die einzelnen Stimmen so dicht ineinanderfließen, dass sie unhörbar werden und nur noch als Klanggestalt wirken. Eine wichtige Wegmarke des kompositorischen Schaffens Ligetis war auch das 1961/62 für die Orgel komponierte “Volumina”, das eine Art Initialzündung einer neuen Musik für die Orgel darstellte.
Als geradezu ikonischer Vertreter der Avantgarde gilt Karl-Heinz Stockhausen, für dessen musikalische Experimente der klassische Konzertsaal längst zu eng geworden war und dem das klassische Instrumentarium bei weitem nicht mehr ausreichte. Prominentes Beispiel dafür ist sein “Solo für Melodie-Instrument mit Rückkopplung” Part I und II. Bei der ersten kommerziellen Aufnahme ergänzte Stockhausen den Posaunisten Vinko Globokar durch Tonbandaufnahmen elektroakustisch verzerrte Militärkapellenklänge und technisch verfremdeten Live-Stimmen etwa beim Gesang der “Internationale” oder der deutschen Nationalhymne.

Reiz der Veränderung

John Cage brach als Komponist radikal mit der musikalischen Tradition, im Vordergrund seines Schaffens stand nicht das Ergebnis, sondern der ergebnisoffene, sich immer wieder verändernde Arbeitsprozess. Als ein verblüffendes “Experiment mit dem Experiment” stellt sich die Simultanaufführung gleich dreier seiner Werke durch das Ensemble Musica Negativa unter Rainer Riehn dar. Für “Atlas Eclipticalis” hatte er einfach transparente Notenblätter auf Sternkarten gelegt. Die himmlischen Längengrade der Sterne gaben den zeitlichen Verlauf des Stücks vor, die Breitengrade die Tonhöhe. Dazu ins Verhältnis werden das 1956 entstandene Klavierwerk “Wintermusic” und die “Cartridge Music” (1960) gesetzt – sie war einer von Cages frühesten Versuchen, elektronische Live-Musik zu produzieren.
Eine Sonderstellung im Repertoire dieser sorgsam aufgearbeiteten Box nimmt Heinz Holligers 1963 entstandenes Werk “Der magische Tänzer” ein, “zwei Szenen für zwei Sänger, zwei Tänzer, zwei Schauspieler, gemischten Chor, Orchester und Tonband”. Sie entstanden nach einem Text von Nelly Sachs und erweiterten den Spielraum der Modernen Musk auch auf den darstellenden Bereich.

Unerhörte Stücke elektronischer Musik

Die umfangreiche Sammlung an charakteristischen Beispielen der Avantgarde-Szene setzt sich fort durch bis dato unerhörte Stücke elektronischer Musik, wie Luigi NonosContrappunto diallettico alla mente” oder Werke des belgischen Electronic-Pioniers Leo Küpper wie “Automatismes sonores” und “L’enclume des forces” zu einem Text des französischen Schauspielers Antonin Artaud.
Zur ganzen Bandbreite der Moderne gehören auch jene Werke, welche die traditionellen klassischen Strukturen bedienen, etwa das Streichquartett. Schöpfungen dieses Genres durch Komponisten wie Krzysztof Penderecki, Witold Lutoslawski oder Earle Brown werden gespielt vom LaSalle Quartet, das für seine fabelhaften Interpretationen der Musik des 20. Jahrhunderts bekannt ist.
Dass dieses Kompendium der Avantgarde auch zahlreiche CD-Premieren enthält, unterstreicht die Tatsache, wie viel es in der Musik der Moderne noch zu entdecken gibt. 

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