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Theorie als Praxis

09.04.2004
Konkurrenz belebt den Schaffensdrang. Als gegen Ende der 18.Jahrhunderts zum einen die italienische Triosonate in Mode kam, zum anderen Georg Muffat sich am französischen Stil versuchte, beschloss Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704), mit einem eigenen Modell zu kontern. Denn er war nicht nur einer der wichtigsten Violin-Virtuosen seiner Zeit, sondern auch als Komponist so angesehen, dass man von ihm künstlerisches Selbstbewusstsein erwartete.
Die “Harmonia artificiosa” zählt zu den verschütteten Werkzyklen der berocken Musikgeschichte. Man darf davon ausgehen, dass Zeitgenossen und Nachfolger des österreichischen Komponisten die Sammlung kannten. Manche Verweise wie etwa der Kopfsatz des “Quartetts g-moll TWV 43:g4” von Georg Philipp Telemann, der sich auf zwei Motive aus Bibers “Allemande” der “Partita IV” bezieht, belegen direkte Bezugnahmen. Andere wie etwa ungewohnte, aber für den frühbarocken Meister typische Griffkombinationen lassen sich zum Beispiel in Bachs “h-moll-Patita” für Violine Solo nachweisen. Trotzdem blieb Bibers Sammlung weitgehend unbekannt und führte durch unüblich gewordene Stimmungen sogar dazu, dass Musiker einen Bogen darum machten. Selbst für den Barock-Spezialisten Reinhard Goebel war es ein langsamer Prozess der Annäherung: “Dreißig Jahre lang habe ich über diesen sieben Partiten gebrütet, sie erwogen, verworfen, geübt und habe nicht zuletzt zwischendurch einige andere Projekte erarbeitet. Immer wieder aber bin ich zu diesem Faszinosum meiner Jugendzeit zurückgekommen. Es nun zum 300.Todestag von Biber 2004 vorlegen zu können, zu einem Zeitpunkt, an dem sich mein Engagement für die Archiv Produktion zum fünfundzwanzigsten Male jährt und wir auf dreißig Jahre Musica Antiqua zurückblicken können, ist Ehre und Verpflichtung zugleich”.
 
Tatsächlich war es eine Herausforderung, für eine Einspielung der “Harmonia artificiosa-ariosa: diversi mode accordata” (1696) das passende Team zu finden. Da ist zunächst die Vielfalt der verwendeten Instrumente, die sämtliche gebräuchlichen da-braccio-Instrumente, Violine, Viola und die Viola d’amore integriert. Dann sind die beiden Geigenstimmen vollkommen gleichberechtigt konzipiert und erfordern dementsprechend symbiotische Interpretationen der Beteiligten. Schließlich verwenden sie die heute unübliche Skordatur, eine effektvolle Verstimmung der Instrumenten, die zu überraschenden Klangfarben führt. Und nicht zuletzt war einige quellenkritische Vorarbeit nötig, um aus den eher spärlichen Überlieferungen wieder einen vollständigen und korrekten Notentext zu rekonstruieren. So konnte Goebel durchaus aufatmen, als er im November vergangenen Jahres mit den Musica Antiqua Köln-Kollegen Stephan Schardt (Violine 1 ÷ 2), Karlheinz Steeb (Viola), Klaus-Dieter Brandt (Continuo / Cello) und Léon Berben (Continuo / Cembalo) ins Studio des Deutschlandfunks ging und am Ende einer intensiven Woche alle sieben Partien des “Harmonia artificiosa” im Kasten waren. Und er kann auch stolz darauf sein, dass er eine ausgezeichnete Aufnahme geschaffen hat, für die das Warten sich gelohnt hat. Denn Goebels Biber hat den nötigen Ernst und die passende Dramaturgie, das als Leistungsschau der kompositorischen Kompetenz konzipierte Werk in aller Pracht erstrahlen zu lassen.