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Der große Unbekannte

10.10.2003
Manche Komponisten haben das Pech, von berühmten Zeitgenossen überstrahlt zu werden. Johann David Heinichen komponierte zeitgleich mit Säulenheiligen barocker Gestaltungskunst wie Bach, Händel, Telemann. Und er wirkte bei Hofe zu Dresden nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das waren für die Nachwelt offenbar Gründe genug, ihn zu vergessen. Zu Unrecht, wie Reinhard Goebel mit den “Dresden Concerti” nachweist.
In der einschlägigen Literatur wird Johann David Heinichen (1683–1729) in der Regel nur beiläufig erwähnt. Das ist aus musikhistorischer Perspektive unverständlich, denn der Komponist und Sohn eines protestantischen Pastors aus Krössuln bei Weißenfels gehörte seinerzeit zu den einflussreichsten Künstler-Persönlichkeiten am Hofe des sächsischen Kurfürsten August des Starken und dessen Sohnes August II. Als daher der Geiger, Ensembleleiter und Kulturgeschichtler Reinhard Goebel sich daran machte, in den Archiven der Sächsischen Landesbibliothek nach den Überresten des Heinichschen Werkkorpus zu fahnden, eröffnete sich ihm eine eigene und bislang weitgehend unbekannte Welt höfischer Musizierpraxis: “Will man die Festkultur des augusteischen Dresden, jene ungemein friedfertige deutsche Art des Absolutismus verstehen, so muss man die Konzerte Johann David Heinichens hören: Realistisch-geradeaus, ungemein energisch und prachtvoll, bisweilen lieblich, aber nie gebrochen oder selbstverliebt den repräsentativen Zweck aus dem Auge verlierend, sind sie ein Abbild jener Zeit, auch jenes selbstbewusst-grandiosen Lebensgefühls, das August den Starken und seinen Sohn beseelte und auch auf ihre Untertanen ausstrahlte – und selbst heute noch ein gewisses Überlegenheitsgefühl der kunstverständigen Sachsen gegenüber den corpsgeistverpflicheten Preußen begründet.”
 
Goebel machte sich ans Werk und rekonstruierte anhand der im Archiv gefundenen Materialien ein Dutzend Konzerte und einige orchestrale Bruchstücke, die zum Orchesterwerk Heinichens gehören. Und er musste feststellen: “Heinichens Kompositionen sind nach den auch heute noch gültigen Regeln des Tonsatzes Meisterstücke. […] Jedes Werk trägt eine durchaus eigene Handschrift. Dreisätzige, viersätzige, fünfsätzige Konzerte, solche mit Suitenanhang oder -innenleben: Heinichen setzte seiner Erfindungslust weder inhaltlich noch formal oder gar klanglich irgendwelche Grenzen.” Die Aufnahmen der “Dresden Concerti” im Februar und März 1992 im Sendesaal des Deutschlandfunks waren daher nicht nur eine editorische Pionierleistung, sondern auch ein besonderes Vergnügen für die Beteiligten der Musica Antiqua Köln. In der Regel in festlichen und fröhlichen Tonarten wie F-Dur und G-Dur gehalten, erklang statt der gängigen Rumpfensembles meist das gesamte Orchester, was schon bei der Komposition auf günstige Schaffensbedingung schließen lässt – immerhin zählten die Mitglieder der Dresdner Hofensemble europaweit zu den begehrten Virtuosen ihrer Zeit. So wurden die Konzerte vom Projekt zur akustischen und stilistischen Entdeckungsreise mit wegweisendem Charakter, die alle Musiker der 1973 gegründeten Musica Antiqua gleichermaßen forderte. Und die das Verständnis des höfischen Barocks fortan um den Namen Heinichens bereichert.
 
Die Referenz:
 
“Diese erste Gesamtaufnahme von Johann David Heinichens ‘Dresdener Concerti’ die Analogie zu Bachs ‘Sechs Brandenburgischen’ liegt nahe – verblüfft durch ihre klangliche Eigenart.” (G. Pätzig im Musikmarkt 4/93)
 
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de