Musica Antiqua Köln | News | 30 Jahre alte Musik

30 Jahre alte Musik

07.11.2003
Reinhard Goebel blickt anlässlich des 30. Jubiläums seiner Musica Antiqua Köln exklusiv für KlassikAkzente zurück auf drei Jahrzehnte Musikgeschichte. Oh Gott: dreißig Jahre Musica Antiqua Köln?? – vor lauter Arbeit muss ich da etwas nicht mitbekommen haben! Zeit zum Innehalten und zum genießerischen Rückblick hatte ich bislang noch nicht.
Das erste Konzert vor 30 Jahren (an einem “autofreien” Sonntag während der Ölkrise 1973) fühlt sich an wie gestern eben erst gewesen – ja, ich habe alles noch präsent:  das 500. “Musicalische Opfer” ebenso wie die erste “Kunst der Fuge”, ein Mini-Konzertchen in Brüssel mit drei rasenden “Brandenburgischen Konzerten” sowie Stromausfall in Kalkutta während der Biber-Partita für zwei Viole d’amore (vier fanden unsere jeweils sieben Saiten auch im Dunkeln!!), eine völlig auswendig gespielte Matinée beim Edinburgh-Festival ’81 (der Noten-Koffer stand friedlich auf dem Münchner Flughafen).
 
Alles präsent! Neben den kleinen Katastrophen auch die ganz großen: Ein Musiker verschwand ohne Farewell in Indien, ein anderer lag nach einem Unfall wochenlang grün und blau im Krankenhaus, ein Kontrabass verschwand in Mailand unter unseren Augen aus dem Auto, das Cembalo wurde eben noch “gerettet”, auch waren die diversen Trennungen nie leicht, waren anfangs mehr noch als “der Anfang vom Ende”…
 
Wettgemacht aber wird alles durch die “großen Momente”: In der Probe zu unserer gemeinsamen Händel-CD zauberten die ersten O-Töne von Anne-Sofie von Otter eine schlicht unbeschreibliche Stimmung, ähnlich bewegend dann das Zusammentreffen mit “unserem” früheren Gambisten Jaap ter Linden nach 16 Jahren für die Telemann-Aufnahme 2001 – und immer sowohl in Konzerten als auch nach den Aufnahmen das Glücksgefühl, nicht nur irgendwie erfolgreich den Staub von Heinichen und Bach-Söhnen weggeblasen zu haben, sondern durch die “ganze Arbeit” selbst auch noch enorm bereichert zu sein.
 
Vor dreißig Jahren hatte ich ein bescheidenes Bücher-Regal mit den Lehrwerken von Quantz, Mozart und Geminiani, und jeder mich besuchende Kommilitone hielt mich für “extrem belesen”. Inzwischen stehen 30.000 Bücher in einer veritablen Bibliothek – und ich fühle mich noch ziemlich dumm. Vielleicht zwanghaft gehe ich den Dingen “auf den Grund”. Ich möchte alles wissen: warum ein Werk komponiert wurde, an welches Kollektiv-Wissen es anknüpfte und wie es gehört wurde, wie und warum es den zeitgenössischen Hörer überhaupt erreichen konnte. Natürlich interessiert mich brennend, wie sehr sich Partitur (totes Papier) und Aufführung (durch lebendige Menschen) unterschieden: mehr noch aber, wie ich meine Erkenntnisse von Trauer, Stille und manchmal auch irrwitziger Turbulenz ins Heute übersetzte – aus alten Noten ästhetische Gegenwart mit heute verständlicher innerer Information mache.
 
Der 30. Geburtstag von Musica Antiqua Köln fällt zusammen mit dem Jubiläum von 25 Jahren (eines Viertel-Jahrhunderts also)  Aufnahme-Tätigkeit für die Archiv-Produktion der DGG. Meinen Produzenten Dr. Holschneider, später dann Dr. Peter Czornij und jetzt Marita Prohmann ist es immer wieder gelungen, in langen und bisweilen hitzigen Diskussionen Profile, Richtungen und Forschungs-Bereiche des Ensembles zu bestimmen – und auch die Gruppe  über die diversen Wechsel hin “zusammenzuhalten”. Ich bin sehr dankbar für diese Hilfe aus der Schaltstelle zwischen Kunst und Kommerz und halte diese korrektive Steuerung der immer zu Höhenflügen und Selbst-Überschätzung neigenden Künstler-Natur für dringend notwenig.
 
Eher zufällig habe ich 1978 bei der Archiv-Produktion mit Dr. Holschneider den veritablen Glücksfall eines Produzenten gefunden, der sich nicht nur kommerziell für “mein” Ensemble  interessierte, sondern mich durch Fach- und Sach-Fragen tiefer in meine disparate Rolle als geigender Musikwissenschaftler stieß, während mein anderer Über-Vater Christoph Wolff in den frühen 80er Jahren mich eher als wissenschaftlich gebildeten Geiger schätzte. In den frühen Dreißigern an zwei solcherart fordernden Lehrmeister zu geraten, ist schon Glück an sich.
 
Trotz gelegentlicher Ausflüge ins Repertoire ist das “Unbekannte” meine Domäne, eben das, was noch nicht (wieder) “Repertoire” ist. Einer völlig unbekannten Ansammlung von Noten auf Papier durch Fach-Wissen und Interpretations-Kunst “beizukommen”, ihr Gesicht, Profil und Dimension zu geben, reizt mich ungleich mehr, als hinlänglich Bekanntes ein wenig zu “verfremden”.
 
Ich wurde vor allem in den letzten Jahren immer wieder gefragt, warum Musica Antiqua Köln immer unzweifelhaft wie Musica Antiqua Köln klinge: weil für mich die undefinierbare Mittelmäßigkeit die wahre Katastrophe ist.
 
Reinhard Goebel