Jean-Yves Thibaudet | News | Singen mit Fingern

Singen mit Fingern

Jean-Yves Thibaudet
© Decca / Michael Tamarro
14.03.2007
Man pfeift sie, diese Melodien. Manche haben die Qualität von Ohrwürmern, Hits des 19.Jahrhunderts, großartige Weisen, die von der Bühne weg sich gleichsam im Gedächtnis einbrennen. Nur leider sind sie zumeist den Sängern und Sängerinnen vorbehalten, weil sie eben für die Oper geschrieben wurden. Das haben schon Virtuosen zu Lebzeiten Verdis und Puccinis, Wagner und Korngolds nicht eingesehen und einige der größten Arien und Werke für Klavier bearbeitet. Dabei handelte es sich stets um Weiterführungen der Originale, die ausgehend vom Motivfundus der Vorlagen suitenhaft oder auch konzeptuell komplex sich den Melodien zuwandten. Sie gehörten wiederum zum ständigen Inventar von Konzertpianisten, gerieten allerdings mit dem Trend zum Authentischen zwischenzeitlich in Misskredit, weil man ihnen die Ursprünglichkeit und kreative Innovationskraft vermeintlich echter Kunstwerke absprach. Wie falsch eine solche Beurteilung liegt, zeigt nun das neue Klavierprogramm von Jean-Yves Thibaudet. Denn “Opera without Words” ist ein Glanzstück des diesjährigen Musikfrühlings, faszinierend vielschichtig und von einem Meister der Differenzierung gespielt.
Es sind Namen, die nur Insidern ein Begriff sind: Yvar Mikhashoff, Percy Grainger, Alfred Grünfeld, Giovanni Sgambati, Louis Brassin. Aber sie haben eines gemeinsam. Allesamt waren sie gute bis herausragende Pianisten und allen ist das Glück verwehrt geblieben, durch die eigenen Kompositionen bekannt zu werden. Mikhashoff (1941–93) zum Beispiel wurde in Kenner-Kreisen längst als Genie gehandelt, als ihn der junge Jean-Yves Thibaudet traf. Fasziniert vom Talent des französischen Newcomers, legte er ihm nahe, doch einige seiner Bearbeitungen von Opern am Klavier auszuprobieren. Thibaudet folgte dem Rat, wurde sich aber erst nach dem frühzeitigen Tod Mikhashoffs der ganzen Tragweite von dessen Oeuvre bewusst, nachdem er einige Partituren aus dem Nachlass zu sehen bekam. So war es klar, dass diese Bearbeitungen prominent in einem Programm vorkommen mussten, das sich der Oper ohne Worte widmet. Mikhashoff resümierte beispielsweise unter dem Titel “Portrait von Madame Butterfly – Opernartige Sonaten-Fantasie in vier Teilen” die Höhepunkt des gesungenen Originals und verknüpft sie kunstvoll vom Präludium über einen Scherzo-haften Satz bis hin zum Finale zu einem eigenständige Motivgeflecht auf Puccinis Klangbasis. Darüber hinaus verließ sich Thibaudet in drei weiteren Fällen auf Mikhashoffs gestalterisches Talent und interpretierte die Arien “O mio babbina caro” aus “Gianni Schicci” (Puccini), “Vissi d’arte” aus “Tosca” (Puccini) und “Casta Diva” aus Bellinis “Norma” in dessen herausragender Bearbeitung.
 
Einen besonderen Draht zur leichten Muse hatte der Busoni-Schüler Percy Grainger (1882–1961) und deshalb kannte man ihn bislang vor allem durch volkstümliche Versionen von klassischen Melodien. Allerdings verstand er sich auch auf anspruchsvolle Transkriptionen. Thibaudet griff im Fall von Richard Strauss' “Rosenkavalier” auf dessen Partitur zurück, die übrigens zu den ausgearbeitetsten Notentexten der Klavierliteratur gilt. Grainger macht sich die Mühe, sogar innerhalb von Akkorden die Lautstärkenverhältnisse der einzelnen Töne zu notieren. Für die Paraphrasen von Johann Strauß' “Fledermaus” wiederum griff Thibaudet auf die Künste von Alfred Grünfeld (1852–1924) zurück, der als Zeitgenosse des Walzerkönigs selbst zu den versierten Koryphäen der Salonmusik gehörte. Eine zarte und reizvolle Variation zu einem Flötensolo aus Glucks “Orphée et Eurydice” hingegen schrieb der italienische Virtuose Giovanni Sgambati (1841–1914), der als Schüler von Franz Liszt zu dessen Protegés gehörte. Als unspielbar schließlich galt die Bearbeitung von Wagners “Walkürenritt”, die der Belgier Louis Brassin (1840–84) niederschrieb. Allein die Balance zu halten zwischen den Arpeggien und Glissandi auf der einen Seite und der klaren Melodie auf der anderen gehört zu den großen Herausforderungen an das pianistische Können, ganz abgesehen von der Fähigkeit, diesem irrwitzigen Stück auch noch eine konzise Form zu geben.
 
In zwei Fällen übrigens bat Thibaudet auch einen Zeitgenossen, ihm passende Neudeutungen zu schreiben. Randy Kerber (*1958) kümmerte sich um das klangliche Erscheinungsbild zweier Themen von Saint-Saëns und eines Stücks aus Korngolds “Die tote Stadt”. So entstand ein außergewöhnliches Programm mit Meta-Musik aus einer der kreativsten Phasen der Bühnenmusik, die in ungewohntem und faszinierend feingliedrigem Gewand erscheinen. Nicht zuletzt ging es Thibaudet auch ein wenig ums Prinzip. Einmal ein Sänger sein, wenn auch ohne Worte. Oder wie er selbst hinzufügt: “Seit ich ein ganz kleiner Junge war, war Singen alles, was ich immer tun wollte, da es die menschliche Stimme erlaubt, die tiefsten Gefühle mitzuteilen. Leider wurde ich jedoch nicht mit der Art Stimme geboren, die man für Opern oder Lieder benötigt. Doch ich bin jeden Tag erneut dankbar, mit diesen Händen geboren worden zu sein, so dass ich mit meinen Fingern singen kann”.

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