Wilhelm Kempff | News | Der "Jahrhundertpianist" – Wilhelm Kempff Edition

Der “Jahrhundertpianist” – Wilhelm Kempff Edition

Wilhelm Kempff
© Siegfried Lauterwasser
21.10.2020
Geboren wurde Wilhem Kempff 1895 in Jüterbog. Aus einer alten Organistenfamilie stammend war es nur natürlich, dass sein musikalisches Fundament von Bach geprägt wurde. Das Klavier sei ihm quasi angeboren und auf den Weg gegeben worden, sagt Kempff über sich. Den Versuch, seinem Sohn auch die Geige anzuerziehen, hatte der Vater schnell wieder aufgegeben. Später, sagt Kempff, habe er auch gelernt, nach innen zu horchen, und so sei nach und nach ein ganz persönlicher Klavierstil entstanden, der, wie Kempf einmal sagte, “aus dem Geist des Instruments geboren war.” Es ist eben jener Stil, der ihn berühmt machte, geprägt von jener “Zärtlichkeit für das Instrument”, die ihn zeitlebens davor bewahrte, “… es zu mißbrauchen, zu Schlagzeugeffekten, sondern dass man seine Seele sprechen läßt”. 
Wilhelm Kempff, der “Jahrhundertpianist” – die Bedeutung dieses Wortes erscheint im richtigen Lichte, wenn man sich bewusst macht, dass Kempffs Musikerkarriere 60 Jahre dauerte. Aber nicht nur seine Lebensleistung und künstlerische Entwicklung schlagen bei dieser Betrachtung zu Buche, sondern auch die weit über ein halbes Jahrhundert währende technische Entwicklung. Beides zusammen macht die Bedeutung der jetzt bei Deutsche Grammophon erschienenen 80 CDs umfassenden Edition mit sämtlichen Aufnahmen des Pianisten Wilhelm Kempff aus, übersichtlich geordnet in vier Bereiche. Deren mit 46 CDs umfangreichster Bereich enthält Kempffs Soloaufnahmen. Die werden natürlich, seiner Herkunft entsprechend, mit Bach eingeleitet, den “Goldberg-Variationen” und beiden Büchern des “Wohltemperierten Klaviers”, die er erst 1980 also zum Ende seiner Karriere aufnahm. Neben Werken von Brahms, Chopin, Händel, Liszt, Mozart und Schumann, stoßen wir nicht nur auf die Einspielung sämtlicher Schubertsonaten, die ihn drei Jahre lang beschäftigte. “Kein anderer Pianist hat Schubert ein besseres Gefühl für seine endgültige Transzendenz von irdischem Schmerz und Mühe vermittelt” urteilte die Zeitschrift “Grammophon”.  Die beiden kompletten Klaviersonatenzyklen Beethovens aus den Jahren 1951–56 und 1964–65, sowie die in den Jahren 1940–43 aufgenommenen Teile dieses Zyklus' weisen Kempff als einen lebenslang Suchenden aus. Sie sind Spiegel seines Bemühens, den gesanglichen Vortrag am Klavier, das molto cantabile, wie Beethoven es so oft in seinen Sonaten verlangt, zu bewahren, “in einer Zeit, in der das non legato herrscht”.
Der Bereich “Konzertaufnahmen” (14 CDs) etwa enthalten u. a. die fünf Beethoven-Konzerte in zwei verschiedenen Einspielungen. Jene mit Ferdinad Leitner entstand 1961 – acht Jahre zuvor hatte Paul van Kempen die Berliner Philharmoniker dirigiert. Seine erste Aufnahme eines Beethoven-Klavierkonzerts, es war das C-Dur-Konzert, absolvierte Kempff bereits 1925 mit der Berliner Staatskapelle.
Neben der unglaublichen Fülle an fantastischen Aufnahmen bietet diese Box also auch die Möglichkeit zum vergleichenden Hören, auch im Bereich “Kammermusik”. Eingeladen, einem musikalischen Dialog zu folgen, den Beethoven uns in schriftlicher Form hinterließ, und den anzutreten Wilhelm Kempff sich gleich zweimal und mit unterschiedlichen Partnern anschickte, erleben wir Erstaunliches. So spielte Kempff bereits 1952 mit Wolfgang Schneiderhan alle zehn Violinsonaten. Wer Schneidehans spezielle Art zu spielen, zu binden und zu artikulieren kennt, der wird den nicht nur klanglichen Unterschied zu dem 18 Jahre später wiederholten “musikalischen Gespräch” bemerken, das Kempff diesmal mit Yehudi Menuhin führte. Die 1965 entstandenen Aufnahmen der fünf Cellosonaten Beethovens mit Pierre Fournier markieren ebenso wie Klavier-Trios mit Pierre Fournier und Henryk Szeryng ein Gipfeltreffen in der Kammermusik. Zu den interessanten Details dieser Abteilung gehört auch eine Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau. Dass Wilhelm Kempff als Komponist ein umfangreiches Oeuvre hinterließ, ist nicht Gegenstand dieser Box. Umso schöner, dass seine 1946 komponierten, nur selten zu hörenden “Vier Lieder” op. 55 nach Texten von Conrad Ferdinand Meyer hier enthalten sind.
Ein ganz besonderes Kapitel innerhalb der Kempff Edition bilden die auf sechs CDs versammelten frühen Schellack-Aufnahmen, die in den Jahren von 1920 bis 1941 entstanden. Sie dokumentieren den ersten Anlauf zur Einspielung des Beethoven’schen Sonatenzyklus – vierundzwanzig sind es zunächst geworden. Dass sämtliche dieser noch in 78er Geschwindigkeit realisiert Aufnahmen Teil dieser Edition sind, unterstreicht ihren eingangs erwähnten so interessanten Aspekt der stürmischen technischen Entwicklung, parallel zur Entwicklung des Künstlers Wilhelm Kempff
“Man hat mir oft vorgeworfen, dass ich nicht Beethoven spiele, sondern ‘kempffisch’ spiele. Ich würde zu persönlich sein. Aber wir wissen ja nicht; wie hat Beethoven gespielt?” Es war am Ende eben dieses, eben Kempffs besonderes Spiel, das ihn zu jenem großen Pianisten werden ließ, dessen Werk in dieser wunderbaren Box gewürdigt wird.
Sie endet übrigens mit der allerersten Aufnahme des 25-jährigen auf Schellack. Die entstand 1920 – Beethovens Bagatelle op.33 Nr. 5. Und ja: auch großen Pianisten passierte es, dass sie mal zwei statt einer Taste erwischen. Kempff quittierte es – hörbar – mit einem leisen: “Verdammt!”

Mehr Musik von Wilhelm Kempff