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Visions fugitives – Anna Gourari spielt Prokofieff, Medtner und Chopin

Anna Gourari
© Marco Borggreve / ECM Records
05.11.2014
Die schönsten Ereignisse im Leben sind flüchtig. Jeder Liebende weiß es: Man kann den Moment der größten Fülle nicht festhalten. Er zerrinnt einem zwischen den Fingern. Was jedoch einerseits so rätselhaft ist, übt andererseits eine unwiderstehliche Faszination aus, und deshalb hat sich die Kunst seit jeher für den flüchtigen Augenblick interessiert.
Schöpferische Irritation
In der Klaviermusik denkt man sogleich an die Moments musicaux von Franz Schubert oder an die berühmten Elf Bagatellen von Beethoven, die alles andere als leichte Kost sind. Weniger bekannt sein dürften die Visions fugitives (etwa “Flüchtige Erscheinungen”), die Sergei Prokofieff in den Jahren 1915–1917 komponiert hat. Diese Miniaturen sind von packender Modernität. Es handelt es sich um groteske Stimmungsgebilde, die den Hörer in völlig fremde Welten entführen. Prokofieff vertieft das irritierende Moment des Flüchtigen. Die Dinge huschen an einem vorbei, und man weiß gar nicht, wie einem geschieht. 
Harmonische Transparenz
Prokofieff spielt mit der Flüchtigkeit der Dinge. Seine schrägen Harmonien bilden das Phänomen des Flüchtigen gleichsam ab. Die nervöse Motorik seiner Rhythmen, eines seiner Markenzeichen, wirkt in den Visions fugitives weniger unruhig. Sie ist durch einen warmen, impressionistischen Duktus abgefedert. Das moderne, urbane Moment seiner Klangkunst erscheint insgesamt nicht so schroff, wie man es sonst von ihm gewohnt ist, sondern fließender, und Anna Gourari fängt diese gemischte meditative Stimmung glänzend ein. Sie fügt ihr sogar noch ein drittes Element hinzu, das in Prokofieffs eigenen, wesentlich gleitender angelegten Aufnahmen der Stücke nicht so stark ausgeprägt war: Klarheit. Denn so emotional und intim ihr Spiel auch ist, Anna Gourari achtet akribisch auf die Transparenz der Harmonien. Sie lässt nichts, aber auch gar nichts verschwimmen, und so gewinnt man den Eindruck einer ungeheueren Klangdichte, einer fast objektiven Kunst, die mit den flüchtigen Momenten fertig zu werden sucht, indem sie sie so genau wie möglich erfasst.      

Seelentiefes Erleben

Auf Prokofieff folgen zwei genuin romantische Kompositionen, die einen verträumten und sehnsüchtigen Ton anschlagen. Chopin und Medtner sind Erz-Romantiker, die sich in das melancholische Gefühl des Flüchtigen hineinbegeben. Hier geht es um das innere, das seelentiefe Erleben der Welt. Dazu muss man an Märchen und Träume glauben, daran, dass die Dinge vielleicht doch nicht verloren gehen. Anna Gourari beweist mit ihrem ungeheuer zarten Spiel von Nicolai Medtners Fairy Tale (etwa “erfundene Geschichte”/"Märchen"), dass sie hiervon etwas versteht. Sie beschützt mit ihrer Vorsicht die zerbrechliche Schönheit des romantischen Gefühls. Nicolai Medtner, dessen Lebensspanne mit der von Prokofieff nahezu identisch ist, kann als Beweis dafür gelten, dass das alte romantische Sehnsuchtsideal nicht an eine bestimmte Zeit gebunden ist, sondern einer persönlichen Haltung entspringt, der es nach Unschuld verlangt. Die Stimmung in Fairy Tale ist jedenfalls von berührender Einfachheit und dabei doch gar nicht banal.         

Poetischer Feinsinn

Das ist die hohe Schule der romantischen Melodik, die sich ein gewisses Maß an Sentimentalität gestattet, ohne ins Kitschige abzugleiten. Einer ihrer größten Lehrer ist Frédéric Chopin, mit dessen dritter Sonate in h-Moll das neue Album von Anna Gourari ausklingt. Bestechend, wie entschieden die russische Pianistin hier auf das poetische Moment drängt, das sie zu keinem Zeitpunkt aus den Augen verliert. Selbst bei den vollgriffigen Passagen, in denen die Versuchung einer pathetischen Überladung groß ist, bleibt sie konsequent darauf bedacht, die harmonische Schönheit von Chopins Klangkunst herauszuarbeiten. Diese Beherrschtheit, die übrigens die leidenschaftlichen Ausbrüche keinesfalls ausbremst, vermag im Hörer ein Gefühl der Freiheit zu wecken, das glücklich stimmt. Fast hat man den Eindruck, als wolle Gourari dem Hörer Räume schaffen, in denen seine eigene Gefühlswelt mitschwingen darf. So gelingt Anna Gourari nach ihrem gefeierten ECM-Debüt “Canto Oscuro” ein zweites brillantes ECM-Album, das in seiner Mischung aus modern-fiebriger Gespanntheit und alt-romantischer Sehnsucht zwei Zentral-Nerven des menschlichen Erlebens trifft.     

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